Paul Heimbach „Farbskala aus drei Farben auf zwei Ebenen“ (2009)
Oder: Sie sehen, was sie sehen, zu Recht!

Bildende Künstler entwerfen ihre Produkte nach einem gekonnten Plan. Der ist Ergebnis einer praktischen Erfahrung in ihrem Metier. Darüber können sie in unterschiedlichen Graden an verbalen Genauigkeiten Auskunft geben. Sie können diese Art von Erfahrung auch lehren oder auch praktisch vermitteln. Jede ihrer Aussagen zu einem ihrer Werke hat einen charakteristischen Aspekt. Ihr Blick bleibt notwendig geprägt vom Weg, der immer mit dem Konzept begann und nachfolgend Schritt für Schritt ihres Arbeitsprozess aus der Erinnerung wieder aufruft. Also sehen sie angesichts des Werkes immer etwas, was augenscheinlich dort materiell nicht vorhanden sein muß. Das unterscheidet ihren Blick auf ein fertiges Werk immer von dem jedes auch noch so versierten Betrachters.

Eine derartige Beschreibung gab Heimbach von seiner graphischen Serie 2009.
Er formulierte darin folgendes:

"Die 64er Farbskala von 2009 in der erstmals alle Stufen ausgeführt sind zeigt die Basis der Zeichnungen der letzten Jahre. Jeder der 64 Rahmen ist mit einer Binärzahl versehen, die in den Zeichnungen ihre Entsprechung findet. Von 000000 bis 111111 oder in der Entsprechung 000000 bis 111111.
1 entspricht somit gelb auf der unteren Ebene, 8 auf der oberen. 2 entspricht magenta auf der unteren Ebene, 16 auf der oberen. 4 entspricht cyan auf der unteren Ebene, 32 auf der oberen. Jedem, der ein wenig mit dem Binärsystem vertraut ist, sollte der Gesamtaufbau jetzt schon klar sein. Aber noch einmal grundsätzlich. In allen Zeichnungen werden nur drei Farben benutzt, cyan, magenta und gelb. Bei zwei Ebenen, wodurch zwei Intensitäten entstehen, sind 6 Elemente gegeben, die den Binärstellen zugeordnet werden können. So wie die Dezimalzahlenreihe von 0 - 63 durch Addition der 6 Binärstellen entsteht kann ebenso eine Farbskala aus diesen 6 Elementen aufgebaut werden. Die Stellen 1. 2 und 4 liegen auf der unteren Ebene, 8, 16 und 32 auf der oberen. Bei Mischfarben wie orange, grün oder violett werden zwei Farben übereinander gezeichnet, bei schwarz also drei. Das heißt: auf der unteren Ebene: 0 = leer, 1 = gelb, 2 bzw. 10 = magenta, 3 bzw. 11 = magenta und gelb, 4 bzw. 100 = cyan, 5 bzw. 101 = cyan und gelb, 6 bzw. 110 = cyan und magenta, 7 bzw. 111 = cyan, magenta und gelb. Die Struktur der Zeichnungen besteht immer aus 200 Linien der Grundfarben, von denen 100 auf der Vorderseite und 100 auf der Rückseite ausgeführt werden. (Bei einseitiger Bearbeitung würde sich das Papier nachher aufrollen.) (200 bei Grundfarben, 400 bei Mischfarben und 600 bei schwarz, bei 63 bzw. 111111, der Verdopplung von schwarz sind es 1.200 Linien).“

Das bedarf für den durchschnittlich gebildeten Kunstbetrachter einiger Erläuterungen.
Thema – oder auch Gegenstand, Subjekt der Blätter von Heimbach sind demnach Elemente und ihre Anordnung. Dabei sind „Elemente“ die Grundfarben cyan, magenta, gelb in Form von schmalen Linien und eine wohlüberlegte Reihenfolge ihres parallel zu einander verlaufenden Auftrags auf der Vorder- und Rückseite jeweils 100 eines durchsichtigen Trägers aus Transparentpapier. Die „wohlüberlegte Reihenfolge“ entspricht dem mathematischen Kalkül des speziellen Falles von Kombinatorik, der mit „Permutation“ bezeichnet wird. Dabei bedeutet „Permutation“ jede mögliche – und exakt berechenbare Anordnung einer begrenzten Anzahl von Elementen, in der alle Elemente verwendet werden.

Das Ergebnis sind 7 km Linien verteilt auf 64 Blätter, die dem Betrachter solange als willkürlich oder wie zufällig angeordnet erscheinen, solange er sich von irgendwelchen Naturassoziationen aus einem Sinnkonstrukt zu nähern versucht. Der Regenbogen, Wolken bei untergehenden Sonne oder farbigen Lichtereignisse weisen grundsätzlich eine völlig andere Farbanordnung auf.

Selbst wenn man auf Anhieb erkennt, daß Weiß (=leer) links oben und Schwarz (resultierend aus 1200 Linien) rechts unten angeordnet ist, ergibt sich beim ersten Hinblick keineswegs eine nachvollziehbare Anordnung der 64 Blätter untereinander – etwa von hell nach dunkel. Im Gegenteil, mitten in der oberen der vier Reihen springt der Ton von Dunkel im nächsten Blatt nach hellem Gelb. Scheinbar nur in der zweiten Reihe von oben zeichnet sich eine Abfolge von unterschiedlichen Rottönen ab. Das aber trifft dann weder für die oberste noch für die beiden unteren Reihen zu. Dort läßt sich keine vergleichbare Abfolge von Gelb-, Grün- oder Blautönen ausmachen.

Aber etwas anderes war schon längst, ja fast gleichzeitig beim ersten Hinblick ins Auge gefallen. Diese quer gestreiften Farbstreifen-Rechtecke kennt man doch von volkloristischen handgewebten Teppichen. Und damit wird für den Betrachter auch noch eine gänzlich andere Ebene seines Nachdenkens über das Gesehene offen gelegt. Er könnte entdecken, daß das Liniengefüge – unabhängig von ihrer farblichen Tönung – in dem Geviert ein optisch wirksames Eigenleben erlangen. Sie sind von Hand aufgetragen und deswegen nicht absolut parallel zueinander. Dadurch entfaltet sich ein Moiré-Effekt. Je dunkler der Farbton ist, desto deutlicher zeichnet er sich ab. Und läßt sich der Betrachter einmal auf diese Erscheinung in seiner Wahrnehmung ein, desto präsenter und bestimmender wird die Folgerung aus diesem Spiel. Damit kommen ganz andere Naturassoziationen hervor. Erinnerungen an das sanfte Spiel des Windes mit Wasseroberflächen, Kräuselungen auf dem Dünensand etwa.

Damit sind zwei klassische Deutungsebenen von Werken der bildenden Kunst schon vom ersten Anblick her versuchsweise und unwillkürlich erschlossen worden. Nennen wir die erste die materiell-technische, ist die zweite eine von Struktur auf der Grundlage dieser ersten. Verknüpft man nun diese ersten beiden, dann kann rasch klar und völlig konsequent in den Sinn kommen, daß es hier um das Innere der Wahrnehmung des Betrachters als Thema von Kunst geht. Diese wird zum unerläßlichen Bestandteil, durch den die Blätter von Paul Heimbach erst zur Kunst sich emanzipieren. Er hat dazu in diesen Graphiken zwei Leistungen beigetragen, die Kunst schon immer auszeichneten: Die wohlüberlegte Beschränkung der Mittel und eine präzise handschriftliche Ausführung. Denn erst die durch die Handschrift des Zeichners bedingte gelinde Ungenauigkeit in der Parallelität des Lineaments erzeugte in den Augen des Betrachters das gelinde Flimmern der farbigen Doppellinien auf Vorder- und Rückseite des transparenten Blattes. Der Grund dafür aber ist zuerst nicht augenscheinlich. Es bedürfte schon ein genaueren analytischen Untersuchung mit Hilfe eines Vergrößerungsglases durch den Betrachtenden, um das auch mit dem eigenen Auge im Detail für sich offen zu legen.

Das Ergebnis auf dieser Ebene entzieht sich indessen der kontrollierten Produktion durch den Künstler. So ist auch nicht zufällig, daß er in der Regel der Letzte ist, der angesichts der Blätter auf dieses Wahrnehmungs- phänomen aufmerksam machen würde. Es lag seinem Plan nicht unerlässlich zugrunde. Gewolltes und Ungewolltes – Adorno nannte es das „Intendierte Nichtindentierte“ - , Beherrschtes und gelinde Ungenaues treffen auf das Auge des Betrachtenden und treten in seine Wahrnehmung ein. Orientierung ist gefragt. Ein Millisekunden nur währendes Spiel des Vergleichens mit erinnert zuvor schon einmal Gesehenem befällt ihn. Unbeherrschbar für ihn selber. Dann können Reflexionen über das Assoziierte sich anschließen. Meist kurz nur, aber aufschlußreich für und über den Betrachtenden selber. Er ist gefragt, um aus dem Angeschauten Kunst werden zu lassen oder zu verwerfen, was sich in seiner ersten Wahrnehmung schon längst abgespielt hatte. Dabei schon wurde auch Sinnhaltigkeit konstituiert. Das aber ist die dritte und für Kunst unerläßliche Ebene. Sie ist von den ersten beiden bedingt. Ohne sie gäbe es diese dritte niemals. Sie verknüpft sich mit dem Produkt aus Künstlers Hand erst durch das Wahrnehmen durch Dritte. Und dann ist es erst Bestandteil des künstlerischen Werkes und bleibt unaufhebbar an es gebunden. Dieser Bestandteil ist unabschließbar weil sich bei jedem weiteren Betrachter wieder eine weitere Nuance dieser unwillkürlichen Sinnstiftung einstellt. Die Bedeutung des Kunstwerkes ist letztlich die immer offene Summe aller dieser Urteile.

Peter Gerlach, 03.2010